
Der US-Journalist Alex Berenson war wegen seiner Kritik an mRNA-Impfstoffen fast ein Jahr bei Twitter gesperrt. Wie sich nun heraussstellte, hatte ein leitender Verwaltungsbeamter Twitter zur Zensur aufgerufen.
Alex Berenson ist ein ehemaliger New York Times Reporter, der heute als freier Schriftsteller arbeitet. Er ist Autor eines gefeierten Sachbuchs über den Bernie Madoff Skandal, eines – vorsichtig ausgedrückt – gemischt rezipierten Buches über einen (vermeintlichen) Zusammenhang zwischen Marihuana-Konsum, Geisteskrankheit und Gewalt, sowie mehrerer Thriller-Romane. In der Corona-Zeit tat er sich als lautstarker Kritiker der mRNA-Impfstoffe und der auch in den USA eine Zeit lang ernsthaft erwogenen Impfpflicht für Erwachsene hervor, was ihm ab August 2021 eine lange Twitter-Sperre eintrug, aufgehoben erst im Juli 2022, als die Anwälte des Unternehmens nach einem langen Rechtsstreit einräumen mussten, dass die Sperre nach den eigenen Richtlinien nicht gerechtfertigt war.
Letzte Woche hat Berenson auf seinem Blog Ausschnitte aus internen Chatprotokollen von Twitter-Mitarbeitern veröffentlicht, die erhebliches politisches wie juristisches Sprengpotenzial bergen, denn die Bildschirmfotos deuten stark darauf hin, dass ein hochrangiger Mitarbeiter des Weißen Hauses namens Andy Slavitt erheblichen Druck auf das Unternehmen ausübte, Berenson wegen seiner Äußerungen über die Corona-Impfstoffe gezielt mundtot zu machen.
Der Unternehmer und ehemalige Investmentbanker Andy Slavitt ist seit der Obama-Administration als Berater und leitender Verwaltungsbeamter im amerikanischen Gesundheitswesen tätig. Im April 2021 traf er sich in seiner damaligen Funktion als Leitender Pandemie-Berater im Covid-19-Krisenteam von Präsident Joe Biden mit Vertretern von Twitter, um über das Thema „Desinformation“ und Netzzensur zu sprechen. Das Treffen im Weißen Haus sei ganz gut gelaufen, schrieb ein Twitter-Mitarbeiter anschließend über Slack, eine Software zur Team-Kommunikation, an seine Kollegen. Allerdings habe der Biden-Vertraute eine „wirklich schwierige Frage“ gestellt, und zwar warum ein Herr Alex Berenson noch nicht von Twitter rausgeschmissen worden sei.
Berenson, so habe Slavitt weiter ausgeführt, sei „das Epizentrum der Desinformation [über die mRNA-Impfstoffe], die auf die überzeugbare Öffentlichkeit ausstrahlt“. Das hätten Datenvisualisierungen gezeigt. Wenig später tippte ein anderer Twitter-Mitarbeiter Folgendes in den Chat: „Ich habe mir seinen Account genau angesehen und glaube nicht, dass irgendetwas davon unsere Richtlinien verletzt.“ Trotzdem kam rund vier Monate später die Sperre, inzwischen, wie gesagt, von Twitter als Fehler bezeichnet und wieder aufgehoben.
Zensuraufforderung an die Twitter-Vertreter
Die von Berenson veröffentlichen Chat-Protokolle „sind der bisher stärkste Beweis dafür, dass Vertreter des Weißen Hauses Twitter und andere Social-Media-Unternehmen requirierten, um diejenigen zu zensieren, deren Ansichten über die Coronapolitik von denen der Bundesregierung abweichen“, kommentiert der Rechtsanwalt Michael P. Senger, der mehrere Mandanten in ähnlichen aber weniger brisanten Verfahren gegen Twitter vertritt. Der in San Francisco ansässige Jurist führt weiter aus:
„Während der verfassungsrechtlich zulässige Grad der Koordinierung zwischen privaten Unternehmen und der Bundesregierung im Hinblick auf die Einschränkung von Meinungsäußerungen umstritten ist, besteht eine allgemein anerkannte rote Linie darin, dass die Bundesregierung keine impliziten oder expliziten rechtlichen oder finanziellen Drohungen einsetzen kann, um ein privates Unternehmen zu Handlungen zu zwingen, die die Rechte der amerikanischen Bürger nach dem ersten Verfassungszusatz [Verbot der Zensur, Anm. d. Red.] verletzen würden, wenn die Regierung diese Handlungen selbst vornehmen würde.“
Ob Andy Slavitts ausdrückliche Zensuraufforderung an die Twitter-Vertreter rechtswidrig war oder nicht, ist eine Frage für die Gerichte, sollte Berenson entscheiden, Anzeige zu erstatten. Die ganze Affäre sollte niemanden überraschen, bemerkte jüngst der Politikwissenschaftler Roger A. Pielke, Jr. (nicht zu verwechseln mit seinem Vater, dem Klimaforscher Roger A. Pielke, Sr.). Schließlich habe der Corona-Hardliner Slavitt (er trat 2020 für einen „90-Prozent-Lockdown“ nach chinesischem Vorbild ein) im ersten Jahr der Pandemie seine engen, wenngleich inoffiziellen Kontakte zur Trump-Administration genutzt, um dem in Minnesota ansässigen Großkonzern 3M zu drohen, er solle mehr Masken produzieren, ansonsten werde das Weiße Haus „Sie holen kommen“ – eine Episode, mit der Slavitt sogar in seinem Buch „Preventable“ prahle.
„An Dreistigkeit kaum zu übertrumpfen“
In Gelsenkirchen hat die Jüdische Gemeinde nach einem Empörungssturm den Frontmann der Südtiroler Rockband Frei.Wild, Philipp Burger, wieder von einer Veranstaltung ausgeladen. Burger sollte urprünglich am 22. September mit anderen deutschsprachigen Prominenten wie dem BKA-Präsidenten Holger Münch, der NRW-Antisemitismusbeauftragten und FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und dem Autor Ahmad Mansour über die Themen Antisemitismus und rechte Gewalt diskutieren. Motto der Veranstaltung, die an das Lebenswerk der 2021 verstorbenen Auschwitz-Überlebenden, Autorin und Aktivistin Esther Bejarano erinnern soll, ist „Nie schweigen!“
Neben zahlreichen empörten Reaktionen aus dem Netz, etwa „Ihr spuckt auf [Bejaranos] Grab“, schaltete sich auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, bei der die Holocaustüberlebende sich langjährig engagiert hatte, in die Debatte ein und forderte die Ausladung Burgers. Dass ein Diskussionsabend mit dem Sänger im Namen von Bejarano geplant sei, sei „an Dreistigkeit kaum zu übertrumpfen“. Etwas anders sah es der Journalist Sascha Hellen, mit Bejarano Co-Autor des Buches „Nie schweigen“. „Esther Bejarano war eine Frau, die keiner Diskussion aus dem Weg gegangen ist. Entsprechend freuen wir uns auf das Gespräch, dass durchaus kritisch wird. Keine Sorge“, antwortete er, bevor die Auslandung Burgers beschlossen wurde, einem Kritiker auf Twitter.
Frei.Wild gelten als umstritten, weil sie konservative Werte wie Heimatliebe, Brauchtum und Glaube besingen, und weil Philipp Burger als Teenager in rechtsextremen Skinhead-Kreisen verkehrte und Sänger der Rechtsrock-Band Kaiserjäger war. Kaiserjäger wurde 2001 aufgelöst, nachdem ein Konzert in einer Massenschlägerei zwischen deutschen und italienischen Skinheads geendet hatte. Burger verließ daraufhin die Szene. Er distanziert sich seit vielen Jahren aufs Schärfste von Extremismus jeglicher Art, wie auch die anderen Mitglieder seiner neuen Band Frei.Wild, die nicht müde werden zu betonen, dass gerade Faschisten, und zwar das Regime von Benito Mussolini, versucht hatten, die kulturelle Identität ihrer Heimat Südtirol auszulöschen. (Quelle: Der Westen)
Gegen die Cancel-Versuche in Schutz genommen
Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat letzte Woche den Verlag C. H. Beck aufgefordert, seine Zusammenarbeit mit dem CDU-Politiker und ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zu beenden. Letzterer habe sich „mit seinen rechtsradikalen und verschwörungstheoretischen Äußerungen vom demokratischen Diskurs verabschiedet. Seine Auffassungen haben in einem seriösen Standardkommentar nichts verloren“, heißt es in einem aktuellen Tweet der politisch links orientierten Organisation. Wenige Tage später gab die Migrationsrechtlerin Kati Lang auf Twitter bekannt, aus Protest über das Erscheinen von Maaßens Kommentierung des Grundgesetzes bei C. H. Beck ihre Zusammenarbeit mit dem Verlag abzusagen. Maaßen bezweifle unter anderem die Unabhängigkeit der Presse und nutze rassistische Argumentationsmuster, daher wolle sie nicht neben ihm veröffentlichen, schrieb Lang.
C. H. Beck hat sich inzwischen mit einem recht trockenen Statement zu Hans-Georg Maaßen zu Wort gemeldet und diesen gegen die Cancel-Versuche in Schutz genommen. Man stehe als juristischer Fachverlag „für eine pluralistische und freie wissenschaftliche Diskussionskultur, solange sich diese im verfassungsrechtlichen Rahmen bewegt“. Bei der Auswahl von externen Autoren arbeite man ausschließlich mit Personen zusammen, die auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. „Dabei orientieren wir uns an den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten und vom Gesetzgeber übernommenen Kriterien.“
„Mehr oder weniger faschistische Einstellung“
In der Schweiz ist es erneut zu einer Konzertabsage wegen des Tragens von Dreadlocks durch einen weißen Musiker gekommen. Nach der Brasserie Lorraine in Bern, die Mitte Juli einen Auftritt der Mundart-Band „Lauwarm“ abbrach, weil manche Zuhörer sich an den Rastafrisuren von einigen der Musiker störten (siehe meine Kolumne vom 29.07.2022), hat nun das Zürcher Restaurant Gleis, ein Projekt der linken Genossenschaft Kalkbreite, den Österreicher Mario Parizek sehr kurzfristig ausgeladen (der Musiker war schon nach Zürich angereist). Wieder lautet der Vorwurf „kulturelle Aneignung“, in diesem Fall ging der Druck offenbar vor allem von Mitarbeitern des Lokals aus.
Der Musiker attestiert den Verantwortlichen in einem Instagram-Video eine „mehr oder weniger faschistische Einstellung“ und beschimpft sie als „Extremistensumpf“. Seine Dreadlocks habe er sich als 13-Jähriger zugelegt, weil er „in einem ziemlich rechten Dorf“ aufgewachsen sei und den Leuten dort habe zeigen wollen, dass es auch andere Menschen gebe, erzählt der Musiker. „Heute werde ich von der linken Ecke deshalb diskriminiert. Ich habe keine Worte dafür.“ Das Restaurant Gleis hat Mario Parizek eine finanzielle Entschädigung gezahlt. (Quelle: NZZ)
„Mehr auf pseudoliberalen Quatsch konzentrieren“
Im schottischen Edinburgh hat das Pleasance Theatre alle zukünftigen Shows mit dem ultra-vulgären Magier und Komiker Jerry Sadowitz abgesagt. Sadowitz soll sich in seiner jüngsten Performance frauenfeindlich geäußert, den Politiker Rishi Sunak (Conservative Party) als „Paki“ beschimpft und einer Frau im Publikum, die ihm bei einem Kartentrick assistierte, sein Glied gezeigt haben, alles Tabubrüche, die dem Veranstaltungsort offenbar zu weit gingen.
Die aktuelle Show des Schotten, „Not for Anyone“, wurde wie folgt beworben: „Jerry Sadowitz ist wieder da, mit seinen verrückten Imitationen von Greta Thunberg, Frankie Boyle und tiefen Venenthrombosen. Er verspricht auch, weniger hasserfüllt zu fluchen und sich mehr auf pseudoliberalen Quatsch zu konzentrieren, um die Mittelschicht mit ihren verfügbaren Einkommen und Persönlichkeiten anzusprechen.“ Ausdrücklich warnte das Pleasance Theatre, die Show beinhalte Kraftausdrücke und Themen, die einige Menschen beunruhigend finden könnten. Man kann also kaum davon ausgehen, dass das Publikum nicht wusste, auf was es sich da einlässt. (Quellen: Edinburghlive, The Times, Spiked)
Staatliche Diversity-Vorgaben „unmöglich“ zu erfüllen
Der Luftwaffe des Vereinigten Königreichs, Royal Air Force (RAF), fällt es indessen offenbar schwer, bei der Rekrutierung staatlich vorgegebene Quoten für Frauen und ethnische Minderheiten zu erfüllen. Die Chefin der RAF-Rekrutierung, eine nicht namentlich benannte hochrangige Offizierin, hat nach Angaben von Sky News diese Woche ihren Rücktritt eingereicht, aus Protest gegen das, was sie eine „faktische Pause“ bei der Einstellung weißer Männer nennt. Gegenüber Sky News haben zahlreiche militärische Quellen anonym zu Protokoll gegeben, dass die staatlichen Diversity-Vorgaben „unmöglich“ zu erfüllen seien, und gefährlich, in Zeiten wachsender Spannungen mit Russland und China. Die RAF dementiert, dass man bei Einstellungsangeboten an weiße Männer eine „faktische Pause“ eingelegt habe.
Bücher komplett aus dem Verkehr gezogen
Ebenfalls im Vereinigten Königreich hat eine aktuelle Recherche der Tageszeitung Times ergeben, dass britische Universitäten mittlerweile mehr als 1.000 Werke mit sogenannten Triggerwarnungen versehen haben. Zehn Universitäten hätten schon Bücher komplett aus dem Verkehr gezogen, weil woke Studenten sich daran stören könnten. Zu den aus Unibibliotheken und -seminaren verbannten Werken gehören laut Times zum Beispiel der 2017 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman „Underground Railroad“ des Afroamerikaners Colson Whitehead (an der Essex University, wegen Darstellungen von Sklaverei) und das klassische Drama „Fräulein Julie“ von August Strindberg (an der Sussex University, wegen der Thematisierung von Suizid).
Weiße Lehrer werden zuerst gekündigt
Abschließend kehren wir zurück in die USA, wo ein neuer Tarifvertrag zwischen der Schulbehörde von Minneapolis (Minnesota) und der örtlichen Lehrergewerkschaft vorschreibt, dass weiße Lehrer bei jeder Art von Personalabbau zuerst entlassen werden müssen. Die Internetplattform Chalkboard Review, die sich kritisch mit woken Entwicklungen im Bildungssektor beschäftigt, hält das für eindeutig verfassungswidrig. Lesen Sie hier den Bericht von Chalkboard Review Reporter Garion Frankel zu der Causa.
Meinungsfreiheit über Bord geworfen
Ebenfalls im US-Bundesstaat Minnesota hat die katholische University of St. Thomas dem örtlichen Ableger der College Republicans verboten, den politischen Kommentator Michael Knowles auf den Campus einzuladen. Die University of St. Thomas ist, was Universitäten in kirchlicher Trägerschaft angeht, etwas ungewöhnlich, denn ihre Statuten garantieren Studenten und Mitarbeitern unbegrenzte Meinungsfreiheit. Aber Knowles hat sich nach Einschätzung der Unileitung in der Vergangenheit abfällig „über die Transgender- und autistische Gemeinschaft“ geäußert, und so hat man das radikale Bekenntnis zur Meinungsfreiheit in diesem Fall einfach über Bord geworfen. (Quelle: Foundation for Individual Rights and Expression, FIRE)
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, März 2021). Bestellbar hier. Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de.
Foto: Pixabay
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