
Kolja Zydatiss / 14.10.2022 / 10:00 / Foto: Spalt/65 /
Unter dem Pseudonym „Mic de Vries“ trug ein Kölner Unternehmer unter den Hashtags #Wirhabenmitgemacht und #Wirhabenausgegrenzt Beleidigungen gegen Ungeimpfte zusammen. Nun laufen gegen ihn Ermittlungen.
„Kein Impfgegner wird wie ein Staatsfeind behandelt. Er darf nur, hoffentlich bald, nicht mehr unter Leute gehen, weil er ein gefährlicher Sozialschädling ist.“ (Rainer Stinner, FDP)
„Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“ (Sarah Bosetti, Komikerin)
„Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben.“ (Tobias Hans, damaliger Ministerpräsident des Saarlandes)
„Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen … Der Staat hat schon umstrittenere Sachen durchgepaukt!“ (Nikolaus Blome, Journalist)
„Kein Ungeimpfter mehr im Büro, kein ungeimpfter Fußballspieler mehr auf dem Rasen, kein ungeimpfter Abgeordneter mehr im Bundestag, kein ungeimpfter Student mehr im Hörsaal.“ (Friedrich Merz, heutiger CDU-Vorsitzender)
„Die Gesellschaft muss das jetzt selbst regeln: Wenn Du nicht geimpft bist, dann möchte ich auch nicht, dass Du mit meinen Kindern spielst!“ (Prof. Emil Reisinger, Tropenmediziner)
„Aussagen, die man nicht vergessen sollte“
Diese und ähnliche „Aussagen, die man nicht vergessen sollte“ von mal mehr, mal weniger prominenten Politikern, Ärzten, Wissenschaftlern und Medienvertretern trug im Sommer ein Kölner Unternehmer und FDP-Mitglied zusammen, der auf Twitter unter dem Pseudonym „Mic de Vries“ aktiv ist. Unter den Hashtags #Wirhabenmitgemacht und #Wirhabenausgegrenzt ergänzten andere Nutzer weitere ausgrenzende, diffamierende oder beleidigende Zitate aus der Corona-Zeit.
Das Zitatesammeln hat nun ein juristisches Nachspiel, und zwar bemerkenswerterweise nicht für die Menschen, die mit ihrer Hetze gegen Ungeimpfte möglicherweise rechtliche Linien überschritten haben, sondern für Mic de Vries selbst! (Kleine Gegenprobe für die in der Regel selbsterklärt progressiven Drosten-, Lauterbach-, Zero-Covid- etc. Ultras: Türken oder Schwule als „Blinddarm der Gesellschaft“, das würde wohl unter den Volksverhetzungsparagraphen fallen – zu Recht.)
Wie der gelernte Physiotherapeut de Vries jüngst auf Twitter mitteilte und mit dem Foto eines amtlichen Schreibens belegte, hat er für Montag, den 17. Oktober 2022 eine Vorladung von der Kölner Polizei erhalten. Es geht um laufende Ermittlungen wegen des Verdachts des „gefährdenden Verbreitens personenbezogener Daten gemäß § 126a StGB“.
Eine Nutzerin, laut Twitter-Bio Juristin, kommentiert treffend: „Oha. Sie haben öffentlich zugängliche Daten und Informationen verbreitet, die die Betroffenen selbst veröffentlicht haben? Datenschutz scheint der letzte Strohhalm zu sein, an dem sich die Rachsüchtigen nun klammern.“ Ein anderer Nutzer bemerkt: „Die Staatsgewalt lässt die Muskeln spielen, Einschüchterungsversuche.“ Der Publizist und Kritiker der Corona-Maßnahmen Boris Reitschuster schreibt zu der Causa unter anderem: „Es scheint sich nichts geändert zu haben in Deutschland seit der Zeit, in der Kurt Tucholsky konstatierte: ‚In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.‘“
Mic de Vries nimmt die Sache mit gelassenem Galgenhumor („Nun ja: Wir lassen uns auf den Spaß ein. Lasst die Spiele beginnen.“). Der Vorladung will der Kölner nach eigener Aussage nicht nachkommen.
„Ausgeprägte inhaltliche Schieflage“
Die private, anthroposophisch geprägte Universität Witten/Herdecke hat diese Woche eine Tagung über die Angemessenheit der Coronamaßnahmen abgesagt. Am 21. und 22. Oktober sollten unter dem Motto „Die Würde des Menschen – (un)antastbar?“ verschiedene prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Journalismus darüber diskutieren, wo heutzutage die Würde des Menschen bedroht ist und ob wir uns im Zuge der Corona-Pandemie in Richtung einer zunehmenden Kontrolle des öffentlichen Lebens bewegt haben. Organisator ist eine Gruppe von Angehörigen der Universität mit dem Namen „Das Ich im Wir“, die nach eigener Aussage für mehr Pluralität und Diskurs in der Coronakrise sorgen möchte.
Im Vorfeld der Veranstaltung hatten der Blog Volksverpetzer und eine Lokalzeitung Stimmung gegen einige geladene Referenten wie Prof. Dr. Ulrike Guérot und Prof. Dr. Stefan Homburg gemacht, deren maßnahmenkritische Äußerungen sie als Extrempositionen einer radikalen „Querdenkerszene“ brandmarkten. Als daraufhin einige Referenten, die eher die deutsche Regierungslinie vertreten, ihre Teilnahme absagten, zog Universitätspräsident Prof. Dr. Martin Butzlaff die Reißleine und untersagte die Durchführung der Veranstaltung in den Räumlichkeiten der Einrichtung.
In einem offenen Brief der Universitätsleitung ist von einer „ausgeprägten inhaltlichen Schieflage“ die Rede. Aufgrund der Absagen sei „ein angemessen kritischer wissenschaftlicher Diskurs von Expert:innen auf Augenhöhe“ nicht mehr gewährleistet. Den Organisatoren der Tagung wirft die Uni-Leitung vor, „nachweislich widerlegten Aussagen eine Bühne zu geben“, ohne dies näher zu begründen. Des Weiteren distanziert sie sich „in aller Entschiedenheit von den Meinungen, Positionen und Narrativen der Querdenkerszene“.
Um letzteren Punkt zu unterstreichen, ist das Schreiben auf der Webseite der Uni mit einer Grafik des Wortes „Querdenker“ und dem Logo der Uni bebildert, wobei „Querdenker“ wie bei einem Verbotsschild mit einem roten Balken durchgestrichen ist. (Mehr zum Thema lesen Sie im aktuellen Achgut.com-Artikel von Stefan Homburg: Cancel Culture in Witten-Herdecke.)
„Gendern ist totaler Müll“
Auf Twitter wurde letzte Woche mehrfach der Satz „Gendern ist totaler Müll“ gelöscht und die betreffenden Nutzer gesperrt. Wer diese subjektive Meinungsäußerung postete, bekam automatisch angezeigt, sein Post verstoße gegen die Twitter-Regeln zu „Hass schürendem Verhalten“. Und weiter: „Du darfst keine Gewalt gegen andere aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, nationaler Herkunft, sexueller Orientierung, Geschlecht, geschlechtlicher Identität, religiöser Zugehörigkeit, Alter, Behinderung oder ernster Krankheit fördern oder andere aus diesen Gründen bedrohen oder belästigen.“
Zuerst gesperrt wurde @LibertyLucas26, laut Selbstbeschreibung das Profil eines politisch liberal orientierten Studenten der Wirtschaftsinformatik. Andere Nutzer zitierten seine Äußerung „Gendern ist totaler Müll“ aus Solidarität und wurden prompt ebenfalls gesperrt. (Quelle)
Offizielle Position der Gesundheitsbehörden
Kürzlich auf Twitter zensiert wurde auch der Generalarzt von Florida, Dr. Joseph Ladapo. Der leitende Beamte hatte 18- bis 39-jährigen Männern aufgrund des erhöhten Risikos, an Herzproblemen zu sterben, von den mRNA-Impfungen gegen Covid-19 abgeraten. Damit gab er die offizielle Position der Gesundheitsbehörden seines Bundesstaates wieder. (Quelle)
„Unangemessene Bemerkungen“
In Großbritannien ist letzte Woche der offen homosexuelle Politiker der Conservative Party Conor Burns von seinem Posten als Handelsminister entlassen worden. Sein Amt als Fraktionsvorsitzender im Unterhaus ruht für die Dauer einer parteiinternen Untersuchung. Grund: Burns hielt sich kürzlich anlässlich des jährlichen nationalen Parteitags der Conservative Party in Birmingham auf. Dort soll er an einer Hotelbar einem anderen Mann an den Oberschenkel gefasst und „unangemessene Bemerkungen“ gemacht haben.
Das behauptet zumindest ein anwesender Parteifreund. Der mit Burns gesehene Mann, der in Medienberichten nicht namentlich benannt wird, brachte den Vorfall selbst nicht zur Sprache. Ob er sich durch die mutmaßliche Berührung und das Verhalten des Politikers insgesamt belästigt fühlte, ist nicht bekannt. (Quellen: BBC, Spiked)
Völlig idiotische Äußerung
Ebenfalls in Großbritannien ist eine Frau namens Miranda Hughes von ihrem Job als Krankenschwester bei einem privaten Reha-Unternehmen entlassen worden. Der britische Rat für Krankenpflege und Hebammenwesen (Nursing and Midwifery Council) droht mit einer umfassenden Untersuchung, in Folge derer die 46-Jährige ihre Berufszulassung verlieren könnte. Hughes hatte sich in einer live ausgestrahlten Talkshow des Senders Channel 5 in immer schrilleren Tönen über Kürzungen der regierenden Conservative Party im Gesundheitswesen aufgeregt. Schließlich platzte aus ihr heraus: „Und es tut mir leid, aber wenn Sie die Konservativen gewählt haben, verdienen Sie es nicht, vom [nationalen Gesundheitsdienst] NHS wiederbelebt zu werden.“
Auf die Frage des Moderators Jeremy Vine, ob sie es wirklich ablehnen würde, einen Wähler der Konservativen wiederzubeleben, machte Hughes sofort einen Rückzieher: „Nein, natürlich nicht.“ In Presseinterviews hat sie ihre zweifellos völlig idiotische Äußerung einen Fehler genannt und sich dafür entschuldigt. Die Entlassung der Krankenpflegerin ist wahrscheinlich rechtmäßig, weil das Handbuch ihres Arbeitsgebers jegliche Fernsehauftritte von Mitarbeitern ausdrücklich verbietet. (Quelle: Spiked)
Ausschließlich für schwarze Studenten „reserviert“
In London hat indessen die Studentenvertretung der University of Westminster angekündigt, dass einige ihrer Veranstaltungen während des Black History Month im Oktober ausschließlich für schwarze Studenten „reserviert“ sein werden. In einer E-Mail an die Studenten wird erklärt, dass damit „ein sicherer Raum (safe space) für Diskussionen und ehrliche Gespräche“ geschaffen werden soll. Auf dem Programm stehen Vorträge, Filmvorführungen und Tanzabende, wobei noch nicht klar ist, welche der Veranstaltungen ausschließlich Schwarzen vorbehalten sein werden. (Quelle: Spiked)
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, März 2021). Bestellbar hier. Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de.
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